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Kurzgeschichten

Erwartung
Es ist kalt. Nur das Lüftungsgebläse summt monoton durch die Stille den Wänden entlang und vereinigt sich zu einem kühlen Luftzug, der vom Boden her langsam aufsteigt. Dazwischen ist ein leises Plätschern zu hören, das richtungslos den Raum durchkreuzt und an keinem bestimmten Punkt zu lokalisieren ist.
Doch ein leichtes Vibrieren des Bodens verrät die nahende Gefahr. Mit gespreizten Fingern und aufgerissenen Augen stehen Lauscher im Raum, die Ohren an die Wände gepreßt. Ihnen entgeht nichts, sie kennen kein Erbarmen, denn ihre rationalisierte Konstruktion ist fehlerfrei. Ein Richter mit blutroter Robe sitzt hinter einem hohen Pult und zeigt mit ausgestrecktem Finger auf den Angeklagten. Von nebenan hört man leises Klopfen der Komplizen, auf die der Galgen wartet. Die Sicht ist durch starken Schneefall behindert. Vielleicht ist es auch Nebel. Es ist schwer zu sagen, denn die Luft vibriert und der Boden schwankt unter den Füßen. Der Angeklagte wehrt sich mit Händen und Füßen, doch schon wird ihm das Messer an die Kehle gesetzt. Der Richter schreit ihn an: Du erwartest zu viel und er zeigt ihm Bilder aus seiner Vergangenheit. Was willst du, dir geht es gut! Und der Angeklagte antwortet ihm mit bebender Stimme: Ich erwarte nichts, denn ich habe Angst davor. Ich darf nichts erwarten, denn wer erwartet wird enttäuscht! Von zwei Wächtern wird er gepackt, von seiner Bank gerissen und langsam zum Galgen gezerrt. Dabei schreit er: Was habe ich getan? Ich habe doch nur auf ein bißchen Liebe gewartet. Nur soviel wie eine Rose zum Blühen braucht. Ihr nehmt mir das Wasser und wundert euch, wenn ich verdorre!
Die letzten Worte sind nur noch undeutlich zu hören, denn schon hat man ihm die Schlinge um den Hals gelegt und die Falltür geöffnet.

N.Burger
09.03.1982